Die Kunst, Grau zu lieben

15. Oktober 2013 at 10:25

Der Norden gilt als düster: Rauhes Wetter, lange Winter, kurze Tage und viel Nebel sind nicht jedermanns Sache. Wer sich aber nicht schrecken läßt, wer in der richtigen Kleidung das Land hinter den Deichen erwandert, der verliert leicht sein Herz an das seltsame Licht des Nordens.

Alles grau! Wenn ich das schon höre: Das Grau des Nordens fächert sich auf in eine breite Palette zwischen Tümpelschwarz und dem Greisenweiß der Morgennebel. Umgesetzt wird dieses Repertoire in hohe Wolkenfladen von kontinentalen Ausmaßen, herangepeitscht von nassen, salzigen Seewinden; in kalte Nebelbänke, die im Winterhalbjahr monatelang  die gesamte Region regelrecht ummanteln; in kurze Tage, die eigentlich nur aus einer langen Dämmerung so um die Mittagszeit bestehen. Nicht zu vergessen der feine Nieselregen – schon mehr eine besonders niedrige Verdichtung von Wasser, die man erstaunlicherweise atmen kann – der gern tage- und wochenlang herabsinkt und sogar das Licht der Autoscheinwerfer zu verschlucken droht. Auf  diesem Urgrund aus Schattenschattierungen tanzen die kreativsten aller Irrlichter brilliante Miniaturen – und oft wird ein kurzer, grauer Wintertag am Ende überraschend mit einem messinggelben Horizont gesäumt, als hätte sich die Himmelstür mal eben einen Spalt geöffnet: Dieses Licht – man fühlt es – fällt aus einer anderen Welt!

Und was ist Grau letztlich anderes, als der jeweilige Zwischenstand des ewigen Kampfes zwischen Schwarz und Weiß, Hell und Dunkel, zwischen den Lebensfeuern der Sonne und dem finsteren Sog Schwarzer Löcher, zwischen Tag und Nacht? Liegt es vielleicht am Grau – welches die funkelnden Kämpfe des Lichtes zu in stumpfen Samt gebetteten Kleinoden macht – daß die Menschen des Nordens nicht so schnell auf dem Tisch tanzen, wie die des Südens? Daß sie gern redselig wie ein Dorsch sind und lieber mit dem sogenannten „Meerblick“ hinter den Horizont gucken? Ist das Grau so eine Mutterkuchen für Philosophen, das angemessene Ambiente einer Brutstätte tiefer, nutzloser Nachdenklichkeit? Für „Spökenkiekerei“? Welch andere Sprache als das norddeutsche Platt hätte ein ebenso gruftiges und dabei liebevoll-ironisches Wort für geistige Grenzgänge hervorgebracht, für Ausflüge zur „Weißen Frau“ im Moor und sonstigen Untoten?

Die Fischreiher sind die farbliche Essenz Norddeutschlands – wer sie entdeckt hat, weiß was Sache ist. Aber diese gespenstischen Gesellen, die wie reglose Klappschirme irgendwo am Ufer in den Binsen zu stecken scheinen, zeigen sich nicht jedem. Es ist, als spürten sie den Blick des Menschen – schon sind sie in der Luft, ziehen mit schwerem Flügelschlag und offensichtlich verstimmt davon. Wie Luftaufklärer des „Fliegenden Holländers“ sehen sie dann aus.

Mein Blick für sie hat sich geschärft, längst entdecke ich die menschenscheuen Fischer aus einer Entfernung, die weiter ist, als ihre Fluchtdistanz. Fernglas an die Augen: Eher fallen einem die Arme ab, als daß der graue Bursche da in seiner Nebelschwade auch nur blinzelt.

Wer schließlich soweit ist, daß er mit den Reihern an einem windigen Abend auf Fischlein oder Maus wartet, der mag sie schon, die Farben des Nordens, hat sie sich zu Fuß oder per Rad erobert – wurde von ihnen verzaubert während einer Autofahrt durch nicht enden wollendes Abendlicht in einen Breitwand-Horizont mit Lightshow. Denn in diese Landschaft – die so platt ist, daß man mittwochs schon sieht, wer samstags auf einen Köhm reinschaut – hat die Sonne schon immer die subtileren ihrer Strahlenkinder geschickt, hier ist die Hohe Schule des Lichts zuhause.

Was dem Andalusier der Flamenco, das ist dem Norddeutschen sein Blick in den Nebel: Ausdruck lokaler Seelenverfassung – analog zur jährlichen Niederschlagsmenge. Und man sollte beides nicht gering schätzen. Auf einem dieser – von alten, knorrigen Kopfweiden und schwärzlichen Erlenpulks gesäumten – Wirtschaftswege irgendwo im Grünland traf ich unlängst bei respektablem Wetter einen neuen Fan des grauen Nordwetters. Ich erkannte das „Greenhorn“ an der ladenneuen, gelben Öljacke – landläufig auch „Friesennerz“ genannt – und der Art, wie er bei Gehen sein Gesicht dem Nieselregen entgegenreckte, als küsse ihn ein bleicher Engel. Ich drängte ihm ein Gespräch auf: „Herrliches Wetter, was?“ „Oh ja, so intensiv“, sprach er aus tiefstem Herzen, blieb stehen und guckte mir etwas manisch in die Augen. „Das hat mir ja so gefehlt!“ Ein Seufzer, als sei er gerade der Kriegsgefangenschaft entronnen.

Es war jedoch ein Spanienurlaub gewesen, der ihm die Augen für die erfrischenden Witterungsbedingungen seiner Heimat geöffnet hatte. Wie er in der ersten Woche am sonnigen Gestade noch in den wilden Farben unterm großen, erbarmungslos blauen Brennglas geschwelgt habe, resümierte er, ihm aber dann dieses ewig gleiche Licht zunehmend unerträglich geworden sei, wie ihm das gelbe Gestein, das blaue Meer und vor allem der allgegenwärtige Flamenco schließlich nur noch an den Nerven fraßen: Nicht einmal richtige Sonnenuntergänge gibt es da“, nörgelte er, „eben noch sengt es einem die Häärchen von der Haut – und plötzlich ist es dunkel. Man muß schon rechtzeitig nach Westen gucken, um nicht zu verpassen, wenn die Sonne ruckzuck ins Meer stürzt – wie ein Euro in den Automatenschlitz – und dabei kurz die Farbe einer extrem synthetischen Götterspeise annimmt!“

Eben: Ein Neuling! – Das Schweigen würde er noch lernen müssen auf zahl- und ziellosen Wanderungen durch Erlkönig´s Nebelland. Man möchte frei nach Dylan fragen, wieviele Straßen ein Mann gehen muss, bis er lernt, die Klappe zu halten. Erst dann, wenn sein Gang zügig wirkt, aber ohne Hast ist, wenn er wortlos Stunde um Stunde schwarz-braunes Flachland und windgekämte Wäldchen durchstreift, tief in Gedanken versponnen, wird er richtig zur seltsamen „Bruderschaft“ gehören, wird im Grau etwas sehen, das sich nicht mitteilen läßt. Und wenn einer seinen Weg kreuzt – in leicht schratigem Outdoor-Look unterwegs in einen Sonnenuntergang wie ein Tor aus Farben in einer Weltkuppel aus wolkigem Schiefer – dann wird er es bei einem stummen Gruß belassen, einem Blick wie von weit her kommend und einer knappen Geste der Hand.